Kapitel 4
Kommunikation ist das halbe Leben
„…daher 08-15 Echt Güllisch Wasser. Der Duft der Güllianerin von Welt.“ Heini hatte das Radio in seinem Trecker sehr laut gestellt. Es gab nichts Schöneres, als beim Treckerfahren Radiowerbung zu hören – außer natürlich zu güllen. „McGüll, der extragroße mit extra viel Sauce Gülliaise….“ Heini bekam langsam Hunger und war froh, nur noch wenige Kilometer bis Schei fahren zu müssen. Eine richtig große Portion Nudeln mit Gulasch und einen leckeren Scheistrudel als Nachtisch mit dieser fabelhaften Vanillesoße. Er hatte nie verstanden, warum Güllianer die Scheißstädter nicht mochten. Sie konnten Apfelstrudel machen, der besser schmeckte als alles, was man sonst auf Gülle bekam und sie konnten Bier machen. Und was für eins! Holgis Heftiges Hefebier war gelbe Plörre dagegen und er hatte sich schon oft gefragt, ob es mit Gülle statt mit Wasser gemacht wurde. Bei näherer Betrachtung kam er zu dem Schluß, daß da kein Unterschied bestand, zumindest farblich [1]. „Ekelsdorf, wieder einmal Nebel, aber die Frisur sitzt….“ Heini bog um eine Kurve „…Kotzenkaten, es regnet, aber die Frisur sitzt…“ und sah in der Ferne die Lichter von Schei. „…Niederqual, die Sonne brennt, aber die Frisur sitzt…“ Er drückte aufs Gas und eilte der Stadt entgegen. „…Drei Wetter Kraft von Güll“! Er mußte sich beeilen. Wenn er ohne ein neues Radio nach Hause kam, brauchte er sich die nächste Woche nicht bei seiner Frau blicken lassen. „Gier ist geil….“ Zwar konnte man in Schei auch nach 18 Uhr einkaufen, aber um acht Uhr abends schlossen auch in der Stadt die Geschäfte. „..Der neue megascharfe Flatscreen Fernseher von Immens…“ Um halb acht kam er in Schei an. „…für lächerliche 2999 güllische Taler“ Auf dem großen Parkplatz in der Veilchengasse stelle er seinen Traktor ab und hastete in Richtung Fußgängerzone.
An der Kreuzung Veilchengasse und Avenue de la Senteur blieb er abrupt stehen und folgte dem Duft von frischem Apfelstrudel in die Konditorei Grünschnabel. Sein Magen knurrte mittlerweile so laut, daß er glaubte, die anderen Kunden im Laden könnten sich selbst nicht mehr verstehen. Wie an jedem Abend kurz vor Ladenschluß war der Verkaufsraum gut gefüllt, da die Leckereien kurz vor Ladenschluß zum halben Preis verkauft wurden. Heini wartete ungeduldig, bis er an Reihe war.
„Nun, junger Mann, was darf es sein?“ Die etwas rundliche Verkäuferin, deren überaus große Vorliebe für Apfelstrudel mit sehr viel Vanillesauce und noch mehr Sahne durchaus zu ihrer Anstellung bei Konditormeister Grünschnabel paßte, wartete geduldig, bis Heini die Worte in seinem Gehirn sortiert und verstanden hatte.
„Ich will ’n A’f’lstru’l ha’m mi’Sahne“ brachte er endlich in der den Güllianern eigenen Liebenswürdigkeit hervor. Nun war es an der Verkäuferin, das Gesprochene zu verarbeiten. Mit güllianischen Auslassungen war sie noch nie zurechtgekommen. Derweilen verstrich die Zeit und als sie endlich verstanden hatte, was ihr letzter Kunde für heute wollte, entgegnete sie „Oh, Apfelstrudel, das tut mir leid, aber der ist aus. Außerdem ist es acht Uhr, ich muß jetzt absperren. Auf Wiedersehen.“ Mit einer für ihre Statur recht gewandten Bewegung kam sie hinter der Theke hervor und schob Heini auf die Straße.
Da stand er nun. Verwirrt und hungrig blickte er auf die Eingangstür, in der die Verkäuferin gerade das Geschlossen-Schild aufhängte. Endlich realisierte er, daß ja nicht nur in der Konditorei Ladenschluß war. Auch die anderen Geschäfte schlossen und somit hatte er keine Chance mehr, ein Radio zu besorgen. Gesche wird wieder einen ihrer gefürchteten Wutausbrüche bekommen und ihn eine Woche lang mit Wasser und Brot bestrafen. Wenn dem so war – und da war er sich sicher – dann konnte er vorher auch noch einen heben gehen. Die Auswahl an Schankwirtschaften, oder wie die Scheißstädter sagten ‚Kneipen’, war riesig. Er schlenderte los in Richtung Innenstadt und ließ seinen Blick über die Schaufenster der Geschäfte schweifen. Da gab es all die schönen Sachen zu kaufen, die ihm Gesche verboten hatte. ‚Was wi’ss’u mi’m Gämboi?’ oder ‚Wo soll’n ’s Geld fü’ so’n Flettskrien Fernse’er herkom’ hä?’ Aber am meisten haßte er ‚Was will sowas wie du mi’m Plattenspieler?’ Dabei mochte Heini Musik fast so sehr wie Werbung. Er konnte alle Lieder von Voodoo Jürgens, dem Superstar der Schlagerpunk Musik, mitsingen. ‚Aber bitte mit Satan’ oder ‚Ich war noch nie in Ekelsbach’ und am meisten liebte er ‚Kriech nich’ da rein’ Ein Lied, bei dem es richtig Spaß machte, sich zu besaufen.
Der Zufall wollte es, daß er, als er durch die Kleine Hutmachergasse ging, sein Sauflied hörte. Wie hypnotisiert steuerte er auf die Kneipe zu und trat ein. Und da stand er. Voodoo Jürgens. Obwohl sich Heini sicher war, heute noch nichts getrunken zu haben, mußte er erst einmal schlucken. Da war nicht ein Voodoo Jürgens, nicht zwei, nicht drei, es waren Dutzende, alle mit dem typischen schwarzen Anzug und der Sonnenbrille. Ein Voodoo Jürgens stand gerade auf der Bühne und schmetterte ‚Krich nich’ da rein’. Die anderen Voodoos und noch wesentlich mehr Zuschauer standen laut johlend vor der Bühne und feuerten den Sänger an. Heini kämpfte sich bis zum Tresen vor und bestellte, als er den Wirt endlich zu fassen bekam, einen großen Krug Bier und eine Flasche Korn. Nachdem er bezahlt hatte, fragte er den Wirt „Was’n hie’los?“ Der Wirt, dem Aussehen nach ein gescheiterter Psychologiestudent, einer von denen, die Seelenklempner werden wollte, weil ihrer Meinung nach kein anderer fähig war, ihre Seele zu klempnern, erwiderte verschwörerisch „Voodoo Jürgens Song Contest“ und fügte dann noch ein sehr psychologisches „Aber, gut, daß wir darüber gesprochen haben“ hinzu. „Ich kann alle Tex’e vom Voodoo sing’n“ sagte Heini mit stolzgeschwellter Brust. „Das is’ mein Lieblingslied“ erklärte er zu zeigte zu dem Voodoo auf der Bühne. „Da kann ma’ so rich’ich nach sauf’n. Pros’“ Heini stemmte das Bier, immerhin handelte es sich um einen 1 Liter Humpen, auf ex und spülte mit einem großzügigen Schluck Korn nach.
Der gescheiterte Psychologe starrte ihn entgeistert an. „Tatsächlich? Alle Texte? Mit soviel Alkohol im Blut?“ Er lachte herzhaft. „Im Ernst. Wenn du Lust hast, kannst du mitmachen. Ich habe hinten noch ein paar schwarze Anzüge und irgendwo ist bestimmt auch noch eine Sonnenbrille. Es ist ganz einfach. Du füllst diesen Teilnameschein aus und zahlst drei Scheidollar Startgebühr. Dann darfst du ein Voodoo Jürgens Lied deiner Wahl vortragen. Am Ende kürt das Publikum den Sieger. Wenn du gewinnst, bekommst Du einen Plattenspieler. Und, wie sieht es aus? Hast du Lust mitzumachen?“ Heini überlegte nicht lange. Für einen Plattenspieler hätte er auch mit wedelnder Banane Samba getanzt. „Ich will auch sing’n“ sagte er schließlich und kramte in seinen Taschen. Etwas verlegen blickte er zum Wirt und legte einen Geldschein auf den Tresen. „Oh, ein güllischer 10 Taler Schein. Nun, ob drei Scheidollar oder zehn güllische Taler, das ist dasselbe“ entgegnete der Kneipenpsychologe und legte Heini das Anmeldeformular hin. „Abe’ gut, d’ss wi’ d’rübe’ gesproch’n ha’m“ führte Heini das Gespräch leicht lallend fort. Er nahm das Formular füllte es aus und wankte zur Umkleidekabine.
Einige Minuten und etliche Flüche später kam er in einem etwas zu kleinen schwarzen Anzug und mit einer etwas zu großen Sonnenbrille in den Schankraum zurück. Er torkelte, in der einen Hand die Kornflasche und mit der anderen das Anmeldeformular wedelnd, auf die Bühne, schubste einen Voodoo Jürgens zur Seite, der gerade dabei war ‚Mit 66 Weibern’ zu singen und wurde vom hinterhergeeilten Wirt wieder zurückgezogen.
„Mann, du mußt doch wenigstens warten, bis dein Mitstreiter fertig ist. Aber gut, daß … ach, du weißt schon was.“ Heini blickte ihn aus zwei Augen an, die den Eindruck erweckten, gleichzeitig zwei Flummis verfolgen zu wollen, die wie irre durch den Raum fegten. „Abe’ ich will jetz’ sing’“ nörgelte er „Ich will, Ich will, Ich will“ und stampfte bei jedem ich und jedem will heftig mit dem Fuß auf. Mit der schon reichlich geleerten Kornflasche setzte er sich wieder in Bewegung. Glücklicherweise war Voodoo Jürgens Nummer 23 gerade fertig und verließ unter stürmischem Applaus die Bühne. Ein sichtlich erleichterter Wirt, der die Situation wieder im Griff hatte, kündete nun einen weiteren Teilnehmer an. Einen Voodoo aus dem ferneren Umland. „Liebe Freunde, kommen wir nun zu Voodoo Jürgens Nummer 24. Und hier ist er! Licht aus – wumm“ Es wurde dunkel im Saal. „Spot an – jahhh, Voodoo Jürgens Güllhuber aus Schietmannshusen mit dem Klassiker ‚Siebzig Jahr, kaum noch Haar’, Applaus, Applaus, Applaus.“
Plötzlich stand Heini Güllhuber alleine auf der Bühne im Lichtkegel des Scheinwerfers und sah sich mit einer johlenden und lachenden Menschenmenge konfrontiert, die er durch das grelle Licht des Scheinwerfers zwar nicht sonderlich gut sehen, aber um so besser hören konnte. Und was er hörte, war nicht dazu angetan, ihm Mut zu machen. Er tat also, was ein Güllianer in einer solchen Situation immer tat, er leerte seine Kornflasche, wedelte mit ihr dem Wirt zu, eine neue zu bringen und fing an zu singen.
Voodoo Jürgens Nummer 24 alias Heini Güllhuber war eine Offenbarung. Der Inhalt seiner mittlerweile leeren Kornflasche im Zusammenspiel mit dem Bier zeigte seine ganze Wirkung. Der Alkohol ging mit den Rezeptoren seines Gehirns eine leidenschaftliche Liaison ein. Einem Dopaminjunkie gleich konnte er seine Bewegungen nicht mehr kontrollieren und ruderte und schaufelte beim Singen mit seinen Armen wie wild umher, wobei sich sein Oberkörper in einem abgehackten Stakkato von links nach rechts bewegte und zurück.
Mit einer Stimme, die nach sehr viel, sehr altem Single Malt Whisky klang, eroberte er mit seiner Interpretation von ‚Siebzig Jahr, kaum noch Haar’ die Herzen des Publikums.
Als Heini nach einem langen Applaus die Bühne verlies, trat ein Mann neben ihn und reichte ihm ein kleines Stück Papier. Heini versuchte sich auf den Text zu konzentrieren, was ihm schon in nüchternem Zustand nicht leicht fiel. Er blickte seinen Gegenüber verwirrt an. „Ich wa’ ech’ klasse, ey“ platzte er plötzlich heraus.
Der Mann wischte sich ein paar feuchte Spritzer aus dem Gesicht und erwiderte „Ja Mann, und deshalb will ich dich unter Vertrag nehmen.“
„Ich un’erschreib’ nix. Am Ende hab’ ich ´ne Waschmaschin’ g’kauft un’ uns’re funzioniert noch“ Heini wanke leicht, als er redete.
„Keine Waschmaschine, mein Bester. Einen Plattenvertrag.“
„Plattenve’trag? Was für´n Plattenve’tag? Soll ich jetzt andauernd Platten kauf´n? Ich hab` keine Zeit fü’ so was. Ich muß andauernd ´n Mis´hauf´n umschich´n und dann muß ich noch Gülle fah´n und dann noch den Dreck wegfeg´n und dann´n Stall ausmis` und dann…“
„Sachte mein Bester. Du sollst keine Platten kaufen, Du sollst sie aufnehmen.“
„Du meis` ich soll sing` und die Leut` könn` das dann hör`n? Wie heis`u eigen`lich?“ Trotz seines Alkoholpegels war Heini Güllhuber noch recht wachsam.
„Riegel, Sal F. Riegel“ sagte sein Gegenüber „aber alle nennen mich Sugarbaby“.
„Schugabäbi? Lusi`ger Name das“ lallte Heini. „Un` was hab` ich davon Schugabäbi?“
Sugarbaby versuchte, Heinis Augen zu fixieren, die immer noch wie zwei Flummis umherirrten. Nach kurzer Zeit war ihm schwindelig. Sich auf Heinis wankenden Kopf als Ganzes zu konzentrieren war wesentlich einfacher. „Ruhm, Erfolg, Bekanntheit und natürlich Geld“ erwiderte Sugarbaby.
Es dauerte eine Weile, bis Heini begriff, was sein Gegenüber gesagt hatte. „Geld? Genug um ´n Radio zu kauf’n?“
„Ein Radio? Hunderte. Tausende. Soviel Du willst!“ Sugarbaby kamen langsam Zweifel, ob dieser betrunkene Bauerndödel überhaupt zum Showstar taugte. Singen mochte ja noch gehen. Aber Talkshows? Interviews? Galaabende?
„Mann, da kann Gesche aber noch viele Radios gegen `ne Wand werf’n.“ Die Flummis in Heinis Gesicht wirbelten noch heftiger umher. „Aber ich brauch’ jetz’ ´n Radio, sons’ brauch’ich ers’ gar nich’ nach Hause komm’n“ jammerte er.
„Ok, ich mache Dir einen Vorschlag. Du bekommst jetzt ein Radio von mir und dafür erhöhen wir im Vertrag meine Provision um 10 Prozent. Ist das fair oder ist das fair?“ Sugarbaby wurde ungeduldig.
„Ich kann ´n Radio mitnehm’n? Sofort?“
„Ja.“
„Ich un’erschreib’ den Ve’trag. Gib her.“
Als Heini Güllhuber an diesem Abend mit seinem Trecker nach Schietmannshusen zurück fuhr, war er glücklich. Er hatte einen Vertrag in der Tasche und ein Radio für Gesche. Vor lauter Freude über diesen gelungenen Ausflug in die Welt der Scheißstädter hatte er seinen gewonnenen Plattenspieler völlig vergessen.
Nach einer recht langen Rückfahrt kam er spät in der Nacht zu Hause an. Im Laufe der Fahrt wurde er immer nüchterner und immer depressiver. Gesche würde sicher sehr, sehr sauer sein. Und Gesche war sauer.
„Das wird aber auch Zeit mein Lieber“ brüllte sie, als Heini aus seinem Trecker kletterte. „Du has’ bestimmt wieder wie ´n Loch gesoff’n un’ has’ mein Radio vergess’n. Es is’ immer das selbe mit dich. Immer muß ma ´n Auge auf dich ham, damit du kein’ Scheiß machs’“
Heini streckte ihr das Radio entgegen und sagte „Ich hab’ dein Scheißradio nich’ vergess’n un’ ich hab Ve’trag.“ Mit diesen Worten ließ er seine Frau stehen, ging ins Haus und ließ sich auf das Sofa fallen, um seinen Rausch auszuschlafen.
An der Kreuzung Veilchengasse und Avenue de la Senteur blieb er abrupt stehen und folgte dem Duft von frischem Apfelstrudel in die Konditorei Grünschnabel. Sein Magen knurrte mittlerweile so laut, daß er glaubte, die anderen Kunden im Laden könnten sich selbst nicht mehr verstehen. Wie an jedem Abend kurz vor Ladenschluß war der Verkaufsraum gut gefüllt, da die Leckereien kurz vor Ladenschluß zum halben Preis verkauft wurden. Heini wartete ungeduldig, bis er an Reihe war.
„Nun, junger Mann, was darf es sein?“ Die etwas rundliche Verkäuferin, deren überaus große Vorliebe für Apfelstrudel mit sehr viel Vanillesauce und noch mehr Sahne durchaus zu ihrer Anstellung bei Konditormeister Grünschnabel paßte, wartete geduldig, bis Heini die Worte in seinem Gehirn sortiert und verstanden hatte.
„Ich will ’n A’f’lstru’l ha’m mi’Sahne“ brachte er endlich in der den Güllianern eigenen Liebenswürdigkeit hervor. Nun war es an der Verkäuferin, das Gesprochene zu verarbeiten. Mit güllianischen Auslassungen war sie noch nie zurechtgekommen. Derweilen verstrich die Zeit und als sie endlich verstanden hatte, was ihr letzter Kunde für heute wollte, entgegnete sie „Oh, Apfelstrudel, das tut mir leid, aber der ist aus. Außerdem ist es acht Uhr, ich muß jetzt absperren. Auf Wiedersehen.“ Mit einer für ihre Statur recht gewandten Bewegung kam sie hinter der Theke hervor und schob Heini auf die Straße.
Da stand er nun. Verwirrt und hungrig blickte er auf die Eingangstür, in der die Verkäuferin gerade das Geschlossen-Schild aufhängte. Endlich realisierte er, daß ja nicht nur in der Konditorei Ladenschluß war. Auch die anderen Geschäfte schlossen und somit hatte er keine Chance mehr, ein Radio zu besorgen. Gesche wird wieder einen ihrer gefürchteten Wutausbrüche bekommen und ihn eine Woche lang mit Wasser und Brot bestrafen. Wenn dem so war – und da war er sich sicher – dann konnte er vorher auch noch einen heben gehen. Die Auswahl an Schankwirtschaften, oder wie die Scheißstädter sagten ‚Kneipen’, war riesig. Er schlenderte los in Richtung Innenstadt und ließ seinen Blick über die Schaufenster der Geschäfte schweifen. Da gab es all die schönen Sachen zu kaufen, die ihm Gesche verboten hatte. ‚Was wi’ss’u mi’m Gämboi?’ oder ‚Wo soll’n ’s Geld fü’ so’n Flettskrien Fernse’er herkom’ hä?’ Aber am meisten haßte er ‚Was will sowas wie du mi’m Plattenspieler?’ Dabei mochte Heini Musik fast so sehr wie Werbung. Er konnte alle Lieder von Voodoo Jürgens, dem Superstar der Schlagerpunk Musik, mitsingen. ‚Aber bitte mit Satan’ oder ‚Ich war noch nie in Ekelsbach’ und am meisten liebte er ‚Kriech nich’ da rein’ Ein Lied, bei dem es richtig Spaß machte, sich zu besaufen.
Der Zufall wollte es, daß er, als er durch die Kleine Hutmachergasse ging, sein Sauflied hörte. Wie hypnotisiert steuerte er auf die Kneipe zu und trat ein. Und da stand er. Voodoo Jürgens. Obwohl sich Heini sicher war, heute noch nichts getrunken zu haben, mußte er erst einmal schlucken. Da war nicht ein Voodoo Jürgens, nicht zwei, nicht drei, es waren Dutzende, alle mit dem typischen schwarzen Anzug und der Sonnenbrille. Ein Voodoo Jürgens stand gerade auf der Bühne und schmetterte ‚Krich nich’ da rein’. Die anderen Voodoos und noch wesentlich mehr Zuschauer standen laut johlend vor der Bühne und feuerten den Sänger an. Heini kämpfte sich bis zum Tresen vor und bestellte, als er den Wirt endlich zu fassen bekam, einen großen Krug Bier und eine Flasche Korn. Nachdem er bezahlt hatte, fragte er den Wirt „Was’n hie’los?“ Der Wirt, dem Aussehen nach ein gescheiterter Psychologiestudent, einer von denen, die Seelenklempner werden wollte, weil ihrer Meinung nach kein anderer fähig war, ihre Seele zu klempnern, erwiderte verschwörerisch „Voodoo Jürgens Song Contest“ und fügte dann noch ein sehr psychologisches „Aber, gut, daß wir darüber gesprochen haben“ hinzu. „Ich kann alle Tex’e vom Voodoo sing’n“ sagte Heini mit stolzgeschwellter Brust. „Das is’ mein Lieblingslied“ erklärte er zu zeigte zu dem Voodoo auf der Bühne. „Da kann ma’ so rich’ich nach sauf’n. Pros’“ Heini stemmte das Bier, immerhin handelte es sich um einen 1 Liter Humpen, auf ex und spülte mit einem großzügigen Schluck Korn nach.
Der gescheiterte Psychologe starrte ihn entgeistert an. „Tatsächlich? Alle Texte? Mit soviel Alkohol im Blut?“ Er lachte herzhaft. „Im Ernst. Wenn du Lust hast, kannst du mitmachen. Ich habe hinten noch ein paar schwarze Anzüge und irgendwo ist bestimmt auch noch eine Sonnenbrille. Es ist ganz einfach. Du füllst diesen Teilnameschein aus und zahlst drei Scheidollar Startgebühr. Dann darfst du ein Voodoo Jürgens Lied deiner Wahl vortragen. Am Ende kürt das Publikum den Sieger. Wenn du gewinnst, bekommst Du einen Plattenspieler. Und, wie sieht es aus? Hast du Lust mitzumachen?“ Heini überlegte nicht lange. Für einen Plattenspieler hätte er auch mit wedelnder Banane Samba getanzt. „Ich will auch sing’n“ sagte er schließlich und kramte in seinen Taschen. Etwas verlegen blickte er zum Wirt und legte einen Geldschein auf den Tresen. „Oh, ein güllischer 10 Taler Schein. Nun, ob drei Scheidollar oder zehn güllische Taler, das ist dasselbe“ entgegnete der Kneipenpsychologe und legte Heini das Anmeldeformular hin. „Abe’ gut, d’ss wi’ d’rübe’ gesproch’n ha’m“ führte Heini das Gespräch leicht lallend fort. Er nahm das Formular füllte es aus und wankte zur Umkleidekabine.
Einige Minuten und etliche Flüche später kam er in einem etwas zu kleinen schwarzen Anzug und mit einer etwas zu großen Sonnenbrille in den Schankraum zurück. Er torkelte, in der einen Hand die Kornflasche und mit der anderen das Anmeldeformular wedelnd, auf die Bühne, schubste einen Voodoo Jürgens zur Seite, der gerade dabei war ‚Mit 66 Weibern’ zu singen und wurde vom hinterhergeeilten Wirt wieder zurückgezogen.
„Mann, du mußt doch wenigstens warten, bis dein Mitstreiter fertig ist. Aber gut, daß … ach, du weißt schon was.“ Heini blickte ihn aus zwei Augen an, die den Eindruck erweckten, gleichzeitig zwei Flummis verfolgen zu wollen, die wie irre durch den Raum fegten. „Abe’ ich will jetz’ sing’“ nörgelte er „Ich will, Ich will, Ich will“ und stampfte bei jedem ich und jedem will heftig mit dem Fuß auf. Mit der schon reichlich geleerten Kornflasche setzte er sich wieder in Bewegung. Glücklicherweise war Voodoo Jürgens Nummer 23 gerade fertig und verließ unter stürmischem Applaus die Bühne. Ein sichtlich erleichterter Wirt, der die Situation wieder im Griff hatte, kündete nun einen weiteren Teilnehmer an. Einen Voodoo aus dem ferneren Umland. „Liebe Freunde, kommen wir nun zu Voodoo Jürgens Nummer 24. Und hier ist er! Licht aus – wumm“ Es wurde dunkel im Saal. „Spot an – jahhh, Voodoo Jürgens Güllhuber aus Schietmannshusen mit dem Klassiker ‚Siebzig Jahr, kaum noch Haar’, Applaus, Applaus, Applaus.“
Plötzlich stand Heini Güllhuber alleine auf der Bühne im Lichtkegel des Scheinwerfers und sah sich mit einer johlenden und lachenden Menschenmenge konfrontiert, die er durch das grelle Licht des Scheinwerfers zwar nicht sonderlich gut sehen, aber um so besser hören konnte. Und was er hörte, war nicht dazu angetan, ihm Mut zu machen. Er tat also, was ein Güllianer in einer solchen Situation immer tat, er leerte seine Kornflasche, wedelte mit ihr dem Wirt zu, eine neue zu bringen und fing an zu singen.
Voodoo Jürgens Nummer 24 alias Heini Güllhuber war eine Offenbarung. Der Inhalt seiner mittlerweile leeren Kornflasche im Zusammenspiel mit dem Bier zeigte seine ganze Wirkung. Der Alkohol ging mit den Rezeptoren seines Gehirns eine leidenschaftliche Liaison ein. Einem Dopaminjunkie gleich konnte er seine Bewegungen nicht mehr kontrollieren und ruderte und schaufelte beim Singen mit seinen Armen wie wild umher, wobei sich sein Oberkörper in einem abgehackten Stakkato von links nach rechts bewegte und zurück.
Mit einer Stimme, die nach sehr viel, sehr altem Single Malt Whisky klang, eroberte er mit seiner Interpretation von ‚Siebzig Jahr, kaum noch Haar’ die Herzen des Publikums.
Als Heini nach einem langen Applaus die Bühne verlies, trat ein Mann neben ihn und reichte ihm ein kleines Stück Papier. Heini versuchte sich auf den Text zu konzentrieren, was ihm schon in nüchternem Zustand nicht leicht fiel. Er blickte seinen Gegenüber verwirrt an. „Ich wa’ ech’ klasse, ey“ platzte er plötzlich heraus.
Der Mann wischte sich ein paar feuchte Spritzer aus dem Gesicht und erwiderte „Ja Mann, und deshalb will ich dich unter Vertrag nehmen.“
„Ich un’erschreib’ nix. Am Ende hab’ ich ´ne Waschmaschin’ g’kauft un’ uns’re funzioniert noch“ Heini wanke leicht, als er redete.
„Keine Waschmaschine, mein Bester. Einen Plattenvertrag.“
„Plattenve’trag? Was für´n Plattenve’tag? Soll ich jetzt andauernd Platten kauf´n? Ich hab` keine Zeit fü’ so was. Ich muß andauernd ´n Mis´hauf´n umschich´n und dann muß ich noch Gülle fah´n und dann noch den Dreck wegfeg´n und dann´n Stall ausmis` und dann…“
„Sachte mein Bester. Du sollst keine Platten kaufen, Du sollst sie aufnehmen.“
„Du meis` ich soll sing` und die Leut` könn` das dann hör`n? Wie heis`u eigen`lich?“ Trotz seines Alkoholpegels war Heini Güllhuber noch recht wachsam.
„Riegel, Sal F. Riegel“ sagte sein Gegenüber „aber alle nennen mich Sugarbaby“.
„Schugabäbi? Lusi`ger Name das“ lallte Heini. „Un` was hab` ich davon Schugabäbi?“
Sugarbaby versuchte, Heinis Augen zu fixieren, die immer noch wie zwei Flummis umherirrten. Nach kurzer Zeit war ihm schwindelig. Sich auf Heinis wankenden Kopf als Ganzes zu konzentrieren war wesentlich einfacher. „Ruhm, Erfolg, Bekanntheit und natürlich Geld“ erwiderte Sugarbaby.
Es dauerte eine Weile, bis Heini begriff, was sein Gegenüber gesagt hatte. „Geld? Genug um ´n Radio zu kauf’n?“
„Ein Radio? Hunderte. Tausende. Soviel Du willst!“ Sugarbaby kamen langsam Zweifel, ob dieser betrunkene Bauerndödel überhaupt zum Showstar taugte. Singen mochte ja noch gehen. Aber Talkshows? Interviews? Galaabende?
„Mann, da kann Gesche aber noch viele Radios gegen `ne Wand werf’n.“ Die Flummis in Heinis Gesicht wirbelten noch heftiger umher. „Aber ich brauch’ jetz’ ´n Radio, sons’ brauch’ich ers’ gar nich’ nach Hause komm’n“ jammerte er.
„Ok, ich mache Dir einen Vorschlag. Du bekommst jetzt ein Radio von mir und dafür erhöhen wir im Vertrag meine Provision um 10 Prozent. Ist das fair oder ist das fair?“ Sugarbaby wurde ungeduldig.
„Ich kann ´n Radio mitnehm’n? Sofort?“
„Ja.“
„Ich un’erschreib’ den Ve’trag. Gib her.“
Als Heini Güllhuber an diesem Abend mit seinem Trecker nach Schietmannshusen zurück fuhr, war er glücklich. Er hatte einen Vertrag in der Tasche und ein Radio für Gesche. Vor lauter Freude über diesen gelungenen Ausflug in die Welt der Scheißstädter hatte er seinen gewonnenen Plattenspieler völlig vergessen.
Nach einer recht langen Rückfahrt kam er spät in der Nacht zu Hause an. Im Laufe der Fahrt wurde er immer nüchterner und immer depressiver. Gesche würde sicher sehr, sehr sauer sein. Und Gesche war sauer.
„Das wird aber auch Zeit mein Lieber“ brüllte sie, als Heini aus seinem Trecker kletterte. „Du has’ bestimmt wieder wie ´n Loch gesoff’n un’ has’ mein Radio vergess’n. Es is’ immer das selbe mit dich. Immer muß ma ´n Auge auf dich ham, damit du kein’ Scheiß machs’“
Heini streckte ihr das Radio entgegen und sagte „Ich hab’ dein Scheißradio nich’ vergess’n un’ ich hab Ve’trag.“ Mit diesen Worten ließ er seine Frau stehen, ging ins Haus und ließ sich auf das Sofa fallen, um seinen Rausch auszuschlafen.
[1] Heini Güllhuber war eine merkwürdige Persönlichkeit. Einerseits hatte er enorme Schwierigkeiten, einen Gedankengang länger als ein paar Sekunden zu verfolgen, andererseits hatte er einen absolut klaren Blick auf politische und wirtschaftliche Zusammenhänge. [zurück]