Festmist

Kapitel 2

Der Club der verrückten Weiber

Schei – die einzige Stadt.
Die Gestalt huschte um eine Hausecke und verschwand im Dunkel der Seitengasse. Niemand hatte sie bemerkt und das war gut so. ‚Es wird Zeit’ dachte sie ‚es fällt sonst auf, wenn ich fehle.’ Flink zog sie einen Beutel unter der Jacke hervor, zog sich bis auf die Unterwäsche aus, kramte in dem Beutel und brachte einen schwarzen Umhang und eine schwarze Kapuze zum Vorschein. Sie schlüpfte in den Umhang, zog die Kapuze tief ins Gesicht, verstaute Mao-Jacke, Mütze, Hose und Hemd im Beutel, packte diesen unter den Umhang und drückte sich noch weiter an die Wand. Merkwürdig, es war nicht das erste Mal am heutigen Tag, daß er sich fragte, warum dieser dämliche blaue Bauernkittel Mao-Jacke genannt wurde. Bisher konnte ihm das niemand erklären, noch nicht einmal der Güllende Kaiser.
Eine weitere Gestalt kam um die Ecke gebogen. Ihre Silhouette zeichnete sich schwarz gegen das helle Licht der Straßenbeleuchtung ab. Die Gestalt schien nicht gut zu Fuß zu sein. Immer wieder wankte sie von links nach rechts und sie quietschte leise vor sich hin. Als sie näherkam, trat die erste Gestalt aus dem tiefen Schatten der Hauswand in den Schatten der Straße. Nun erkannte sie auch, warum die zweite Gestalt wankte und quietschte. Es war eine alte Frau mit Rollator. ‚Na wunderbar’ dachte die Gestalt.
„Wer ist der Erbauer von Gack?“ fragte die alte Frau mit erstaunlich fester und klarer Stimme.
Die Frage stimme, aber die Gestalt hatte mit einer, nun, anderen Person oder besser einer anderen Art von Person gerechnet. Eher jemand, der in der Lage war, mit einem Arm einen Baum auszureißen und nicht jemand, der mit zwei Armen im Supermarkt ein Stück Butter in den Rollator legen konnte.
„Gack erbaute sich selbst“  antwortete die Gestalt. „Du kannst mich im übrigen Deep Manure nennen.“ sagte er mit einem Vibrato in der Stimme. Ein schwaches Leuchten zeichnete seine Kontur gegen die Dunkelheit ab.
„Mein Name ist Frieda Affron. Es gibt Leute, die meinen es müssen Affront heißen, aber das sind Dummköpfe oder Bauern. Oder beides, was eigentlich der Normalfall ist.“
Deep Manure nickte. „Vor zwei Tagen ist der Güllende Kaiser aus dem Koma erwacht. Das heißt, in vierzig Tagen beginnen die Feierlichkeiten zum Verrückten Gras. Ihr habt also nicht mehr viel Zeit für Vorbereitungen.“ Deep Manure sprach leise und eindringlich. An seiner Sprache konnte man nicht erkennen, aus welcher Region er stammte. Nur eine fast nicht wahrnehmbare Duftnote nach Gülle deutete darauf hin, daß er nicht aus Schei kam. Er drehte sich abrupt um und ging schnellen Schrittes die dunkle Gasse hinunter.
„Warte…“ Doch der Informant war schon von der Dunkelheit verschluckt. Nur ein kleines leuchtendes Dreieck mit den Initialen DM schimmerte schwach in der Ferne. Plötzlich war ein Rascheln zu hören, dann ein Knistern wie von Stoff, der schnell aus einem Beutel gezogen wird, dann verschwand das Dreieck und es war kein Geräusch mehr zu hören außer dem leisen Quietschen eines Rollators.
Frieda Affron war zufrieden. Ihr erstes Treffen mit dem legendären Deep Manure oder D-Man, wie ihre verschworene Gemeinschaft ihn liebevoll nannte, war vorüber und sie wunderte sich über sich selbst. Mit wackeligen Knien, die nicht nur auf ihr hohes Alter von vierundneunzig Jahren zurückzuführen waren, trat sie auf die zu dieser Stunde sehr belebte Avenue de la Senteur, die von Nord nach Süd verlaufende Hauptstraße.
.’Vierzig Tage’ dachte sie. ‚Es wird wirklich Zeit, das Projekt voranzutreiben.’ Tief in Gedanken versunken ging sie leise quietschend auf der Avenue in Richtung Süden.
Die Feierlichkeiten zum Verrückten Gras. Drei Tage fressen und saufen am Hofe des Güllenden Kaisers und in den Dorfern und Kirchflecken auf Gülle. Diese drei Tage war die einzige Zeit auf Gülle, in der sich der Güllenebel legte und die Sonne ungehindert auf den Planeten scheinen konnte. Am zwölften Januar, dem Tag der Wintersonnenwende, wurde am Hofe traditionell ein Saufgelage veranstaltet, das solange dauerte, bis der Güllende Kaiser ins Koma fiel. Dies konnte schon drei bis vier Tage dauern, denn Güllianer waren von Natur aus trinkfest. Sechs Wochen nachdem er wieder aus dem Koma erwachte, wurde dann, quasi zu Ehren des Kaisers, das dreitägige Fest des Verrückten Grases gefeiert. Es wurde viel Umpf-Ta-Ta Musik gespielt, viele Hassengauer Gassenhauer gegrölt, es wurden rote Pappnasen über die schon kornroten Nasen gezogen und kleine silbrig glänzende Papphütchen auf den Kopf gesetzt. Es gab viel Konfetti, viele Karamelbonbons, viel Sülze in Aspik und all jene Köstlichkeiten, die man süßsauer zubereiten konnte und es gab Bier und Korn in rauhen Mengen. Das wichtigste aber war der Festmist. Ohne Festmist konnten Güllianer kein Fest feiern und die Feierlichkeiten zum Verrückten Gras schon gar nicht. Er wurde in die Bierzelte gestreut und das ausströmende Ammoniakgas, in Verbindung mit Zigaretten und Gasheizlampen, verstärkte die Wirkung des Alkohols. Ein Umstand, der für  Güllianer nicht zu unterschätzen war und der Feinherbmist von Heini Güllhuber war unübertroffen. Die Geburtenrate neun Monate nach den Feierlichkeiten zum Verrückten Gras lag regelmäßig deutlich über der des übrigen Jahres. Die Vaterschaftsklagen ebenso. Problematisch war es jedoch, den Nachweis zu erbringen, wer der Vater war. Angaben wie ‚Es war ein weißer Hase’ oder ‚Das Zebra müßte es gewesen sein’ waren bei der Identifizierung nicht sonderlich dienlich und die Ermittlungen verliefen regelmäßig im Sande. Im Laufe der Jahre hatten sich die güllianischen Gerichte geweigert, eine Vaterschaft anzuerkennen, nur weil eine Pappnase auf den Zinken eines potentiellen Erzeugers paßte oder der Papphut nicht ins Gesicht rutschte. Zu oft standen die Söhne der Großbauern im Zentrum des öffentlichen Interesses und man munkelte, der Oberste Güllerat hätte all seine Autorität und wohl auch sein kleines Notizbuch mit den vielen kleinen Anmerkungen über seine Berufskollegen, das selbst der Güllende Kaiser gerne gehabt hätte, in die Waagschale geworfen, als sein Sohn die zwölfte Vaterschaft anerkennen sollte.
Frieda Affron war an dem kleinen Haus in der Kleinen Hutmachergasse angekommen. Solche Ausflüge waren nichts mehr für sie. Erschöpft zog sie die Klingelschur und eine kleine Glocke im Haus ertönte. Fast zeitgleich wurde die Tür einen Spalt weit geöffnet und eine brüchige Stimme fragte „Wo erbaute Gack sich selbst?“
„Elsa, mach’ die Augen auf, ich bin es, Frieda.“ Die Tür öffnete sich ein wenig mehr, eine Lupe kam zum Vorschein und Elsa kicherte nervös.
„Frieda wer? Du kannst Dich verkleidet haben oder siehst Frieda Affron nur täuschend ähnlich. Ohne Parole kommst Du hier nicht rein. Basta.“ Die alte Dame klang entschlossen und Frieda wußte, sie hatte verloren.
„Gut, Du hast gewonnen“ sagte Frieda. Nach einer kurzen Pause flüsterte sie mit einem verschwörerischen Tonfall „Gack erbaute sich auf sich selbst.“
„Wie bitte?“
Frieda verlor langsam die Geduld, sagte „Hol’ Dein Hörrohr“ und dachte ‚Wenn ich die Parole hier herausposaune, brauchen wir keine Parole mehr’. Die Tür fiel ins Schloß und es waren Trippelschritte zu hören. Es dauerte eine ganze Weile. Ab und zu klimperte etwas, dann klirrte etwas, das sich verdächtig nach einem nun in tausend Scherben auf dem Boden liegenden Glas anhörte, Stimmen schwollen an und wurden wieder leiser und plötzlich flog die Tür auf. Henriette Rosenduft erschien in der Türöffnung und sagte in ihrer liebenswürdigen Art „Frieda, rein mit Dir. Elsa hat zu viele Agentenfilme gesehen. Sie glaubt bisweilen Miss Moppel zu sein.“ Als Frieda in dem warmen Flur stand, kam Elsa zurück. Bewaffnet mit Gehstock und Hörrohr trat sie vor den Neuankömmling und streckte ihr das Rohr entgegen.
„Parole“ bellte sie, als Frieda sich über ihren Rollator beugte und so laut sie konnte hineinbrüllte „Fischers Fritze fischt frische Fische.“
„Das ist falsch“ sagte Elsa, drehte sich um und ging ins Wohnzimmer.
„Das Prinzip der richtigen Antwort hat sie noch nicht ganz verinnerlicht“ sagte Henriette.
Ein paar Meter weiter die Straße hinunter trat ein Schatten aus einem dunklen Hauseingang und eilte davon. Es schien, als würde der Beutel, den er trug, in der Dunkelheit schimmern.
Im Wohnzimmer war der ganze Club versammelt. Margot Dunstmann, Helene Fried, Mary Morgenroth, Linda Nau und natürlich Henriette, Elsa und Frieda, zusammen gut 600 Jahre Lebenserfahrung. Das Wohnzimmer war von einer Größe, die man in einem solch kleinen Haus nicht erwartet hätte. Lediglich eine größere Anzahl von Rollatoren und Gehhilfen ließ es kleiner wirken, als es war.
Bei Beerdigungskuchen, den auf ganz Gülle servierten Butterkuchen mit einer dicken Schicht gehobelter Mandeln und einem dünnen Zucker und Zimt Überzug, Kaffee, Tee und reichlich Schlagsahne steckten die alten Damen ihre Köpfe zusammen und besprachen das weitere Vorgehen. Es fielen Worte wie Festmist, keine zwei Monate, D-Man, Ammoniak, neuer Kontakt, Gasheizlampe und schnelles Handeln. Den letzten Worten folgte betretenes Schweigen und sieben Augenpaare schwenkten hinüber zu Rollatoren und Gehhilfen.
„Es ist ein Kreuz mit dem Alter“ sagte Linda Nau. Die anderen sahen sie erstaunt an. Immerhin war sie mit dreiundsiebzig Jahren die jüngste unter ihnen.
„Der Plan ist gut, aber wir brauchen noch mehr Informationen über die Beschaffenheit des Mistes“ warf Frieda ein und fuhr fort „Mary, kannst Du noch einmal einen Kontakt mit D-Man herstellen und ihm eine Nachricht zukommen lassen?“ Mary nickte. „Dann bitte ihn, uns eine Probe zukommen zu lassen. Helene und Margot können dann eine Analyse vornehmen. Danach wird es leichter sein, unsere Marschrichtung abzustecken.“
„Hat jemand Heinzi gesehen?“ Henriette blickte in die Runde. Es folgte allgemeines Kopfschütteln.
„Heinzi ist doch auf seinem Zimmer“ vermutete Elsa, aber Henriette erwiderte „Nein, als ich vor unserem Treffen an seine Tür klopfte, kam keine Antwort. Ich habe die Tür einen Spalt geöffnet und er war nicht auf seinem Zimmer. Merkwürdig, sonst sagt er immer Bescheid, wenn er aus dem Haus geht.“
Als sei dies das Zeichen gewesen, klopfte es an der Wohnzimmertür und ein junger Mann schob sich in das Zimmer. „Ich bin wieder zurück“ sagte er schüchtern, blickte verlegen in die Runde, nickte kurz und verschwand wieder.
Heinzi von Bückling, der letzte Sproß derer von Bückling. Die Bücklings waren von jeher darauf bedacht, sich bei der Obrigkeit anzubiedern, um sich größtmögliche Vorteile zu verschaffen. Viele Generationen war das Familienoberhaupt der erste Berater des Güllenden Kaisers, nachdem es Johannes Franz Ferdinand Bückling gelang, sich bei dem, zugegebenermaßen recht einfältigen, Kaiser Torben-Theodor VII. so beliebt zu machen, daß dieser glaubte, auf die Dienste des Bücklings nicht mehr verzichten zu können. Rektal-Hannes, wie Johannes Franz Ferdinand auch genannt wurde, da er aus dem Rektal im Frohengebierge  stammte, war am Ziel seiner Träume.
Für die Bücklings begannen Jahre des Wohlstandes und des Ansehens. Man hatte es geschafft, man war jemand.
Die Kaiser gingen, die Bücklings blieben. Rektal-Hannes’ Urenkel, Johannes Conrad, war ein begnadeter Intrigant und verstand sich blendend  darauf, Kaiser und Obersten Güllerat gegeneinander auszuspielen, was ihm schließlich das Adelsprädikat einbrachte [1].
Ausgerechnet Johannes Heinz von Bücklings Vater, Johannes Fritz, war es, der beim Güllenden Kaiser in Ungnade fiel.
Nach Generationen der zufriedenen Buckelei vor den Oberen und genüßlichem Treten nach den Unteren, nahm es Johannes Fritz mit der Arschkriecherei zu wörtlich. Er hatte ein Verhältnis mit der Güllenden Kaiserin begonnen und während er den Kaiser auf Reisen wähnte widmete er sich voll und ganz seiner Kaiserin.
Gerade als er in einem sehr physikalischen Sinne der Kaiserin in den Hintern kriechen wollte, flog die Tür auf, der Güllende Kaiser  stand im Türrahmen und die hoffnungsvolle Zukunft derer von Bückling fand ein jähes Ende. Johannes Fritz wurde in einem Schauprozeß zu lebenslanger Zwangsarbeit am Kaiserlichen Misthaufen verurteilt und seine Familie des Hofes verwiesen.
Helga von Bückling ließ sich in dem kleinen Flecken Ekelsdorf in der Region Eiswannen unter dem Namen Helga Hering nieder. Ihr Sohn Johannes Heinz behielt seinen Nachnamen. Um aber mit seiner Familie und der Tradition zu brechen, legte er seinen Vornamen Johannes ab und nannte sich fortan nur noch Heinzi von Bückling. Er zog jahrelang durch die Lande, verdingte sich als Güllefahrer und Mistumschichter und kam schließlich vor etwa sechs Monaten nach Schei.
Auf dem Weg durch die Stadt kam er an einer Bäckerei vorbei. Ohne einen Schei-Cent in der Tasche blickte er sehnsüchtig und hungrig ins Schaufenster um all die Köstlichkeiten zu betrachten. Als sein Blick über die Auslage schweifte, bemerkte er einen kleinen Zettel an der Scheibe ‚Hilfe für Haus und Garten gesucht – Frage im Laden nach’. Heinzi ging in den Laden und fragte nach der Adresse. Die Verkäuferin schickte ihn in die Kleine Hutmachergasse 6 zu Frau Rosenduft und Frau Grothe.
Ausgestattet mit einer recht vagen Wegbeschreibung und einer frisch gebackenen Käsestange, die er geschenkt bekam, machte Heinzi sich auf den Weg. Obwohl es von der Bäckerei zu Henriette Rosendufts Haus nur wenige hundert Meter waren, brauchte er ganze zwei Stunden. So eine Stadt war schon etwas anderes als das flache Lande, das er kannte. Dort konnte man schon heute sehen, wer morgen zu Besuch kommt. Hier konnte er bestenfalls sehen, wer ihm als nächstes auf den Fuß trat.
Das Gespräch mit Henriette und Elsa war kurz. Am Ende hatte Heinzi eine Arbeit, ein Zimmer und Familienanschluß.
Mary Morgenroth rieb sich das Kinn „Was meint ihr, ist es möglich, daß Heinzi D-Man ist?“

[1] Zu jener Zeit war es üblich, daß die älteste Tochter des Obersten Güllerates die Mätresse des Güllenden Kaisers wurde. Johannes Conrad ließ den Kaiser glauben, der Oberste Güllerat hätte seine Tochter angewiesen, für ihn zu spionieren, um den Güllenden Kaiser erpressen zu können. Gründe gab es hierfür auch genug und Johannes Conrad machte sich dies zu nutze. In einem Scheinprozeß wurde der Oberste Güllerat zu lebenslänglicher Zwangsarbeit am Kaiserlichen Misthaufen verurteilt und Johannes Conrad konnte sich des kaiselichen Dankes gewiß sein. Zuteil wurde ihm dieser Dank in Form des Titels von Bückling. [zurück]