VG Freiburg, AZ 4 K 4916/16 – Gebot der Rücksichtnahme – Optisch bedrängende Wirkung von WEA ab 200 m Höhe

B-W, VG Freiburg, AZ 4 K 4916/16

Ein interessanter Beschluss mit bemerkenswerten Begründungen

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Vorläufiger Rechtsschutz des Nachbarn gegen immissionsschutzrechtliche Genehmigung von Windenergieanlagen;
Abstand zur Wohnnutzung wegen optisch bedrängender Wirkung

Leitsatz

1. Die in der Rechtsprechung vielfach angewendete Vermutungsregel, dass eine Windenergieanlage eine optisch bedrängende Wirkung auf eine Wohnnutzung nur dann hat, wenn ihr Abstand zur Wohnnutzung das Maß der zweifachen Höhe unterschreitet, bedarf für Anlagen der neuen Generation mit Höhen von 200 m oder mehr der Überprüfung in einem Hauptsacheverfahren. (Rn.45)

2. Das gleiche gilt für die Annahme, dass die optisch bedrängende Wirkung einer Windenergieanlage dann typischerweise geringer ist, wenn ihr Standort wesentlich höher liegt als der der Wohnnutzung.(Rn.51)

Orientierungssatz

1. Das sich aus § 35 Abs. 3 Satz 1 BauGB ergebende Gebot der Rücksichtnahme schützt bei Windenergieanlagen u.a. auch davor, dass von diesen eine optisch bedrängende Wirkung auf benachbarte Grundstücke ausgeht (vgl. OVG Münster, Urteil vom 09.08.2006 – 8 A 3726/05 -, DVBl 2006, 1532).(Rn.26)

2. Vergleiche zur zur optischen Bedrängnis durch Windenergieanlagen mit einer Höhe von 200 m VGH Mannheim, Beschluss vom 05.04.2016 – 3 S 373/16 -, juris, Rdnr. 19 ff.(Rn.45)

3. Vergleiche zu Leitsatz 2. VGH Mannheim, Beschluss vom 05.04.2016 – 3 S 373/16 -, juris, Rdnr. 22.(Rn.51)

VG Freiburg (Breisgau) 4. Kammer
Entscheidungsdatum: 13.03.2017
Aktenzeichen: 4 K 4916/16

Auszug aus der Begründung

  1. Bei der hier im Streit stehenden Windkraftanlage 1 überstreicht der Rotor mit einem Durchmesser von 126 m jedoch eine sehr viel größere Kreisfläche von ca. 12.500 qm. Während die Gesamthöhe linear zunimmt, wächst die eigentliche Störquelle, die vom Rotor bestrichene Fläche, im Quadrat (des Radius). Dies spricht dafür, für Windenergieanlagen der neuen Generation die Vermutung einer regelhaften Unzumutbarkeit schon bei einem Abstand von deutlich mehr als der zweifachen Höhe der Anlage eingreifen zu lassen.
  2. Spricht danach Einiges dafür, dass die Schwelle für die Einzelfallprüfung hier höher liegen muss und von dem Vorhaben unterschritten wird, schließt dies allerdings nicht aus, dass nach den Umständen des Einzelfalls von der Anlage doch keine rücksichtslose optische Bedrängnis des Anwesens des Antragstellers ausgeht.
  3. 49Gemindert ist die Schutzwürdigkeit des Anwesens des Antragstellers sicherlich deshalb, weil sein Anwesen im Wesentlichen nach Süden ausgerichtet ist, während die Windkraftanlage im Norden stünde. Erheblich ist auch, dass wegen der Hauptwindrichtung West die vom Anwesen aus sichtbare, vom Rotor überstrichene Fläche vergleichsweise selten voll sichtbar sein dürfte. Auch erscheint in einem gewissen Umfang architektonische Hilfe möglich und zumutbar.
  4. Ob allerdings der Umstand, dass das Anwesen des Antragstellers im Außenbereich liegt, seine Schutzwürdigkeit erheblich mindert, erscheint der Kammer der Überprüfung bedürftig. Dieser Umstand wird zwar in zahlreichen einschlägigen gerichtlichen Entscheidungen regelmäßig betont. Allzu große Bedeutung dürfte ihm aber nicht zukommen. Denn wegen der im Außenbereich ebenfalls privilegierten Wohnnutzung muss auch diese einen qualifizierten Schutz – auch vor optisch bedrängender Wirkung – haben, wenn auch nicht ganz in dem Umfang, wie er (reinen oder allgemeinen) Wohngebieten zu Gute kommt (ähnlich wie dies immissionsschutzrechtlich der Fall ist).
  5. Zweifelhaft ist auch, ob das Landratsamt dem Umstand, dass die Anlage topographisch bedingt fast 100 m höher steht, zu Recht die Wirkung beigemessen hat, dass dies die von der Anlage ausgehende optische Bedrängnis sogar mindere (vgl. demgegenüber, allerdings für einen Fall, bei dem die Abstände von Windenergieanlagen zur Wohnnutzung ohnehin vergleichsweise groß waren, VGH-Bad.-Württ., Beschluss 05.04.2016 – a.a.O., Rdnr. 22).
  6. Unabhängig hiervon wird es zur Einschätzung der von der Anlage ausgehenden optischen Bedrängnis auch einer besseren Visualisierung bedürfen. Die vom Vorhabenträger vorgelegte Visualisierung (VA Band VII, S. 91) zeigt nicht das volle Ausmaß der optischen Bedrängnis, weil die beiden vom Anwesen des Antragstellers aus sichtbaren Anlagen 1 und 2 nur von der Seite gezeigt werden. Die vom Vorhabenträger in das Internet eingestellten Visualisierungen des „Windparks H.“ (https://www.enbw.com/unternehmen/konzern/energieerzeugung/erneuerbare-energien/windkraft-an-land/windpark-H./) helfen insoweit nicht weiter.
  7. Nicht zuletzt der Umstand, dass in der veröffentlichten Rechtsprechung noch kein Fall entschieden worden ist, bei dem der Abstand einer Windkraftanlage der neuen Generation ganz nah an der zweifachen Gesamthöhe der Windkraftanlage lag, spricht dafür, diese Beurteilung – wie die Beurteilung der weiteren vom Antragsteller aufgeworfenen Fragen – dem Hauptsacheverfahren zu überlassen.

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http://www.landesrecht-bw.de/jportal/?quelle=jlink&docid=MWRE170005265&psml=bsbawueprod.psml&max=true&doc.part=L&doc.norm=all

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